Man sieht meiner Gesprächspartnerin ihren Lebenswandel in den letzten zwanzig Jahren deutlich an: schwerste chronische Alkoholabhängigkeit, Bulimie, mehrfache Aufenthalte in der Psychiatrie, Wohnungsräumung und zwischenzeitliche Obdachlosigkeit, inzwischen deutliche körperliche Schädigungen an mehreren Organen. Irgendwie kommen wir auch über ihre Erfahrungen mit dem christlichen Glauben und mit der Kirche ins Gespräch. Sie meint, sie habe vor ein paar Jahren einige Kirchen besucht (vor allem auch einzelne Freikirchen), und das sei gar nicht so schlecht gewesen: „Die Leute dort sind sehr freundlich und zugewandt – solange man sich ihnen anpasst!“ Nun will ich diesen Satz meiner Gesprächspartnerin nicht auf die Goldwaage legen, doch einfach übergehen kann ich ihn auch nicht. Denn wenn das stimmt, wenn wir in unseren kirchlichen Gruppen und Gemeinschaften nur dann offen und zugewandt zu den Menschen sind, wenn sie unseren Erwartungen entsprechen (wenn sie also jetzt schon so leben wie wir meinen, dass sie leben sollten), dann haben wir ein riesiges Problem. Dann handeln wir nicht mehr so, wie Jesus Christus, unser Herr, handeln würde!
Auf der Rückfahrt von diesem Besuch denke ich mir: „Vielleicht müsste man eine Kirche speziell für die unteren Zehntausend gründen, also gerade für die, denen bereits auf dem Parkplatz vor der Kirche schwindelig wird, wenn sie unsere gehobenen Mittelklasse-Autos sehen.“ Aber wäre das die Lösung? Ich bin mir da nicht sicher. Viel besser wäre es vermutlich, wenn Kirche die Kraft hätte, alle zu integrieren, die Erfolgreichen ebenso wie die Gestrandeten. Nur kenne ich bislang kaum eine kirchliche Gemeinschaft, bei der das wirklich funktioniert. Und ich frage mich: Warum ist das nicht möglich? Schließlich hat Jesus immer wieder betont, dass er für die Kranken gekommen ist und nicht für die Gesunden! Und er hat dies nicht nur betont, sondern vor allem auch gelebt – er hat es uns vorgelebt.
Bis heute habe ich keine Antwort darauf. Aber vielleicht ist das ja auch okay: wenn ein Pastor nicht immer die fertigen Lösungen und perfekten Antworten hat, sondern eben auch einige ungelöste Fragen. Und wenn Sie eine Antwort haben, dann dürfen Sie mir gerne schreiben. Jedenfalls sollten wir uns nicht damit abfinden, wenn unsere Kirchengemeinden und Gemeinschaften eine ganze Bevölkerungsgruppe nicht mehr erreichen. Denn auch diesen Menschen gilt doch die Einladung von Jesus: „Ich bin gekommen, um euch das Leben zu geben – Leben im Überfluss.“ Vielleicht darf man sogar sagen: Gerade ihnen gilt diese Einladung. Und die Kirche sollte der Ort sein, wo dies erfahrbar wird.
Erschienen in der „MainPost“ am 19.10.2018