Über viele Jahre hinweg habe ich anderen Menschen gestattet, meine Grenzen zu verletzen und mir „auf die Füße zu treten“, ohne mich dagegen zu wehren oder wenigstens mal „autsch“ zu rufen. Ein kurioses Beispiel ist das folgende Erlebnis im Supermarkt. Ist schon ein paar Jahre her, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran:
Ich stand mit meinem Junior an der Kasse. Das heißt, nur ich stand. Der Kleine saß im Einkaufswagen und grabbelte an den Verpackungen herum. Mit einer Hand versuchte ich, meine Einkäufe auf das Band zu befördern und mit der anderen, meinen Sohn daran zu hindern, kleine Löcher in die Deckel der Joghurtbecher zu stoßen. Da fährt mir mein Hintermann in die Hacken. Ich schaue mich um und sehe einen kleinen etwas buckeligen Opi, dessen Augen mich anfunkeln. Aber er sagt nichts, keinen Ton. Also kümmere ich mich wieder um meine Einkäufe. Da passiert es ein zweites Mal. Schon wieder habe ich seinen Wagen in meinen Fersen, dieses Mal aber etwas heftiger. Erneut drehe ich mich um. „Geht’s noch etwas langsamer, oder was?“ Da begreife ich plötzlich, dass mir der Alte absichtlich in die Hacken fährt. Meine erste Reaktion ist Wut: „Hör mal zu, du kleiner alter Scheißer. Wenn du mich noch einmal berührst, dann quetsche ich deinen faltigen Hintern in den Kindersitz deines Einkaufswagens und fahre mit dir zum nächstbesten Baggersee, um dich samt deinen Corega Tabs dort zu versenken!“ So ungefähr stelle ich mir meine Antwort vor. Doch die kommt nicht. Stattdessen schlucke ich meinen Ärger herunter und höre ich mich sagen: „Entschuldigung, ich mach ja schon so schnell, wie’s geht.“
Ist das zu fassen? Wo kommt so etwas her?
Ich will mich hier angemessen kurz fassen: Der Hintergrund eines solchen Verhaltens ist eine „abhängige Persönlichkeitsstruktur“. Aufgrund mangelnder Selbstannahme war ich ständig von der Annahme und Anerkennung anderer Menschen abhängig. Darum musste ich – wenn irgend möglich – jegliche Form eines Konfliktes vermeiden.
Nun birgt die jahrelange Ansammlung von Erniedrigungen allerdings ein großes Problem: Das Selbstwertgefühl tendiert gegen Null (als Puls wäre es nicht mehr messbar) und zugleich steigt der Pegel angestauter Aggressionen bedrohlich an. Wenn das Maß dann schließlich voll ist, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du explodierst und rastest aus, oder du implodierst und richtest deine Aggressionen gegen dich selbst. Typen wie ich wählen wohl eher den zweiten Weg (Gott sei Dank!). So wurde ich mit der Zeit immer depressiver und litt unter Ängsten und Panikattacken.
Erst in der Klinik habe ich begonnen zu begreifen, dass ich das Recht habe, mich abzugrenzen und zu schützen. Und ich habe erste vorsichtige Versuche unternommen, dies auch zu tun. Zehn Jahre sind seit dem vergangen und inzwischen habe ich eine Menge dazugelernt. Zwar bin ich auch heute noch kein Wunder an Selbstbehauptung, aber ich bin doch mehr und mehr in der Lage, für mich einzustehen und dafür auch Konflikte zu riskieren.
Und das fühlt sich richtig gut an! So gut, dass ich um nichts in der Welt mit meinem alten Harmoniebedürfnis tauschen wollte. Immer deutlicher bekomme ich jetzt ein individuelles Profil. Und das hat zur Folge, dass mich manche Leute mögen und andere wiederum nicht. „So what?“ Andersherum ist es ja genauso: Manche Menschen mag ich sehr, andere wiederum gehen mir gehörig auf den Zeiger und ich gehe ihnen lieber aus dem Weg. Das ist ganz normal.
Eine Anmerkung noch zum Schluss: In christlichen Kreisen werden ein krankmachendes Harmoniebedürfnis und mangelnde Konfliktfähigkeit leider oft als besonders geistlich gedeutet: als eine besondere Form von christlicher Demut. Das ist aber ganz und gar nicht der Fall. Denn demütig kann nur der Mensch sein, der auch mutig ist. Aber dazu später mehr.
An dieser Stelle ist mir nur eins wichtig: Mensch, wehr dich doch! Fang an, dich ernst zu nehmen und mach dich nicht zum Fußabtreter anderer Leute. Sei es dir wert, Konflikte einzugehen und schütze deine einzigartige Persönlichkeit! Und wenn du alleine dazu nicht in der Lage bist, dann suche dir kompetente Hilfe! Das ist zwar kein einfacher Weg, aber einer, den du nie bereuen wirst.
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