Aus dem ursprünglichen Manuskript meines Buches habe ich einige Passagen gestrichen, da sie zum Verstehen meiner Biografie nicht zwingend notwendig waren und das Buch auch kürzer werden musste. Einige dieser Outtakes sind vielleicht aber dennoch interessant zu lesen. Darum hier zwei Erlebnisse aus meiner Zeit in der Klinik von Bad Herrenalb.
Einige Tage nach meiner Ankunft war ich auf dem Weg zu unserer Kerngruppe, als mir plötzlich schwindelig wurde. Zugleich fing mein Herz wie wild an zu rasen und ich bekam keine Luft mehr. Sofort stieg Panik in mir auf, was die Symptome leider nur noch verschlimmerte. Also lief ich nach draußen an die frische Luft. Dort habe ich mich dann in eine Ecke gekauert und hatte Todesangst. Ich dachte wirklich: „Jetzt ist es aus!“ Doch nach ein paar Minuten war ich immer noch am Leben und beruhigte mich langsam wieder. Deutlich verspätet kam ich dann in unserer Gruppe an und erzählte, was passiert war. Worauf mir Bernd, unser Therapeut erklärte, solche Panikattacken könnten im Laufe des therapeutischen Prozesses immer wieder mal vorkommen, sie seien aber nicht lebensbedrohlich. Am Besten sollte ich nicht versuchen, mich dagegen zu wehren, sondern mich darauf konzentrieren, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Das ganze würde dann von alleine wieder verschwinden. Ich war tierisch sauer auf Bernd. Vor allem darauf, dass er so tat, als sei so etwas völlig normal und weiter kein Grund zur Aufregung. Am liebsten hätte ich ihn angebrüllt: „Weißt du eigentlich wie beschissen sich das anfühlt? Ich habe gerade gedacht, ich krepiere. Und was machst du? Du sagst mir, ich soll mich nicht weiter aufregen. Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein!“ Stattdessen aber habe ich überhaupt nichts gemacht: Weder gebrüllt noch irgendeinen Kommentar abgegeben. Schließlich wollte ich ja keinen Ärger mit meinem Therapeuten, also habe ich meine Wut wieder einmal runter geschluckt. Erst später habe ich begriffen, dass er froh gewesen wäre, wenn ich ihn angemotzt hätte. Er hatte dies geradezu provoziert, um mich aus der Reserve zu locken. Solche Panikattacken blieben aber nicht das einzige seltsame Phänomen, womit ich fertig werden musste. Drei Wochen später wurde es noch viel verrückter und bedrohlicher, denn da habe ich mich komplett weggebeamt…
Mir wurde klar: Nicht alleine den Menschen in meinem Umfeld galt es zu vertrauen, sondern ebenso mir selbst. Ich war ja längst nicht mehr das arme, kleine, verlassene Baby, das hilflos in seinem Bettchen liegt und schreit. Inzwischen war ich ohne jeden Zweifel ein erwachsener Mann geworden, der schon viel erlebt und manche Herausforderung gemeistert hatte. Ich war jemand und konnte etwas – ich musste nur endlich an mich glauben. Was mir fehlte, war das Vertrauen in meine eigenen Ressourcen und Fähigkeiten. Je mehr ich darüber nachdachte, umso mehr ärgerte ich mich über die zahlreichen vertanen Chancen in meinem Leben. Ich hatte kaum mal etwas gewagt und dementsprechend wenig gewonnen. Ich war der Typ, der immer auf Nummer sicher geht. Und das nervte mich inzwischen ganz gewaltig: „War es nicht höchste Zeit, mal wieder etwas ziemlich Abgefahrenes zu machen?“ Nur was? Nach ein paar Tagen kam ich schließlich darauf. Mein Zimmer lag im Erdgeschoss und hatte einen Balkon zur Straße hin. Die Hausfront der Klinik war mit seltsamen Steinen verziert, die innen ein Loch hatten. Hässlich, aber ideal, um daran hochzusteigen! Dieser Plan war die perfekte Mutprobe. Also habe ich am Abend Marcel aus dem fünften Stock angesprochen: „Pass mal auf, Marcel. Wenn es demnächst nachts an deine Balkontür klopft, dann krieg bitte keinen Herzinfarkt. Ich will unsere Hauswand hochklettern und irgendwo muss ich ja schließlich wieder rein, wenn ich oben bin.“ Dann kam die Nacht, in der ich wusste: „Jetzt oder nie!“ Als ich draußen an der Fassade hing und gerade am dritten Stockwerk angekommen war, spazierten unten doch tatsächlich Passanten vorbei. Und das nachts um 1.00 Uhr in so einem kleinen Kaff wie Bad Herrenalb. Da unsere Klinik sowieso schon als „Irrenhaus“ verschrien war, würden die vermutlich sofort die Feuerwehr alarmieren, wenn sie mich entdeckten. Aber das haben sie nicht. So kam ich schließlich ohne Probleme oben an, klopfte bei Marcel und war stolz wie Oskar, es geschafft zu haben. Ich war jemand und konnte etwas – wer oder was sollte mich jetzt noch aufhalten auf meinem Weg nach oben?